Ich bin China by Guo Xiaolu

Autor:Guo, Xiaolu [Guo, Xiaolu]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Knaus Verlag
veröffentlicht: 2015-03-24T16:00:00+00:00

13 – Memphis, Tennessee, Mai 2012

Die Tournee ist vorbei. Am Tag nach dem letzten Auftritt schlafen die Band-Mitglieder länger als sonst – bis auf Bruce, der schon früh aufgestanden ist und telefoniert, um mit Musikern in aller Herren Länder zu verhandeln.

Gegen Mittag wacht Dongdong auf. Nachdem er an den Kühlschrank gewankt ist und einige Schlucke kaltes Wasser getrunken hat, entdeckt er, dass Lutao nicht in seinem Bett liegt. Zuerst denkt er, der Sänger sei im Badezimmer – eine lange Morgensitzung nach den Unmengen von Bier und dem scharf gewürzten mexikanischen Essen am Vorabend –, aber als Lutao nach fünfzehn Minuten immer noch nicht auftaucht, sieht Dongdong im Bad nach: nichts – kein Erbrochenes, kein Blut, keine Leiche. In dem Moment fällt ihm auf, dass der mit Sternenstickern beklebte blaue Koffer von Lutao nicht mehr im Zimmer steht. Auch Lutaos Klamotten, die neu gekauften Lederschuhe und Elvis-Presley-T-Shirts, sind verschwunden.

Dongdong klopft an die Tür von Bruce’ Zimmer. Als der Manager hört, was passiert ist, weicht ihm die Farbe aus dem Gesicht.

»Ich hätte eure Pässe einsammeln sollen«, hält er sich vor, doch jetzt ist es zu spät.

Nach dem Mittagessen sitzen die Bandmitglieder herum und beobachten schweigend das Treiben draußen auf der Straße. Mu hat noch immer ihren Pyjama an und fläzt sich auf Lutaos leeres Bett. Sie nagt an einem Apfel, als ginge sie die ganze Geschichte nichts an. Es ist Montag, und auch in Memphis brausen Autos über die Schnellstraßen, und Menschenmengen schieben sich durch die Stadt. In der vagen Hoffnung, draußen vielleicht einen Chinesen mit blauem Koffer zu entdecken, mustern die Jungs aus der Band die vorbeieilenden Passanten, doch es sind weit und breit keine Chinesen zu sehen. Nicht einmal Japaner oder Koreaner.

»Na, dann viel Glück, Lutao«, flucht Bruce verbittert.

Zum Abschluss der Amerikatour will Bruce der Band seine Gastfreundschaft demonstrieren und lädt alle in sein Elternhaus in der Nähe von Boston ein. »Jetzt habt ihr Urlaub und dürft ein paar Tage entspannen. Kostenloses Essen! Keine Trinkgelder oder Servicegebühren mehr!«

Alle jubeln, außer Mu.

Bruce zeigt ihnen ein Foto seines Elternhauses, einem geräumigen, dreistöckigen Gebäude mit Garten.

»Ein tolles Haus, und auch ein gutes Feng Shui«, lobt Liuwei mit einem Anflug von Neid. Auch er hätte sich gerne von der Band abgesetzt, um in Amerika zu bleiben.

»Genau deshalb ist die Stimme des amerikanischen Präsidenten die lauteste! In diesem Land werden die Präsidenten nicht nur besser bezahlt als auf anderen Kontinenten«, ruft Dongdong, »sie wohnen auch noch schöner.«

Bruce zuckt mit den Schultern. »Wenn du hier aufgewachsen wärest, würdest du es nicht mehr besonders finden. Darum bin ich ja nach China gegangen.« Er wendet sich an Mu. »Hör zu, Sister, ich kann versuchen, im Studentenclub von Harvard eine Lesung für dich zu organisieren. Ich denke, den jungen Intellektuellen dort würde dein Stil gefallen.«

»Gut, wenn du meinst«, erwidert Mu kurz angebunden. Sie spricht schon lange keine vollständigen Sätze mehr mit Bruce.

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